In einem unscheinbaren, seit über zwanzig Jahren als „herrenlos“ geltenden Lagerhaus im Leipziger Westen ist ein Fund gemacht worden, der Historiker, Technikexperten und die Kunstwelt gleichermaßen elektrisiert. Auslöser war ein simpler Dachschaden, der die Feuerwehr zur Kontrolle rief – was sie dann vorfanden, stellt eine einzigartige Zeitkapsel dar.
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Das Gebäude, ein backsteinerner Koloss aus der Gründerzeit, stand seit der Nachwendezeit leer, eingezäunt und vergessen. Nach starken Regenfällen brach ein Teil des Daches ein, und Anwohner meldeten verdächtige Geräusche. Als die Einsatzkräfte die verrosteten Tore öffneten, erwartete sie nicht etwa Chaos und Verfall, sondern eine akkurat organisierte, staubige Parallelwelt.
Das Lagerhaus erwies sich als vollständig erhaltenes Archiv und Showroom eines nie realisierten Zukunftsmuseums aus der DDR der späten 1980er Jahre. Unter dem Projektnamen „Horizont 2000“ sollte hier offenbar die sozialistische Zukunft im Wettstreit mit dem Westen präsentiert werden – ein Projekt, das nach der Wende schlagartig gestoppt und vollständig vergessen wurde.
Was die Besucher nun in Staunen versetzt, ist der surrealistische Zustand und der Inhalt:
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Eine voll funktionsfähige, aber nie ausgelieferte Ausstellung: Dutzende maßstabsgetreue Modelle von „Zukunftsstädten“, utopischen Verkehrssystemen mit schwebenden Magnetzügen und modular Wohnkomplexen, alle in detailverliebtem Modellbau.
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Die „Galaxie der Arbeit“: Ein riesiges, kinetisches Kunstwerk aus Stahl und Glas, das die „Harmonie von Mensch und Roboter“ darstellen sollte. Die Motoren summten noch leise, als der Strom für die Beleuchtung angeschlossen wurde.
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Technologische Geister: Funktionsprototypen von Alltagsgeräten, die es nie in die Läden schafften: Ein Farbfernseher mit integriertem Teletext („Bildschirmzeitung“), ein „Heimcomputer“ namens „Robotron KC 9000“ mit eigenem Betriebssystem und Software auf Kassetten, und ein funktionierender Elektro-Kleinwagen, der aussieht wie eine Mischung aus Trabant und Raumschiff.
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Kunst im Karton: Hunderte von Gemälden, Grafiken und Skulpturen, alle im Stil des „Sozialistischen Futurismus“ – eine verschollene Kunstrichtung, die Klassische Moderne mit Space-Age-Ästhetik verbindet. „Das ist eine kunsthistorische Sensation. Diese Werke waren völlig unbekannt“, sagt Prof. Dr. Helena Schmitz von der Hochschule für Grafik und Buchkunst.
„Am gespenstischsten ist die Atmosphäre“, beschreibt Feuerwehrhauptmann Daniel Bauer den ersten Eindruck. „Es ist, als hätte das gesamte Personal einfach am 9. November 1989 mittags die Werkzeuge hingelegt und wäre gegangen. Tassen stehen halb voll auf Zeichentischen, Kalender zeigen den Oktober 1989, Mäntel hängen an den Haken. Die Zeit ist hier eingefroren.“
Wer das Projekt initiierte und warum es so abrupt und gründlich in Vergessenheit geriet, ist noch völlig unklar. Die Eigentumsverhältnisse sind undurchsichtig. Das Landesamt für Denkmalpflege hat inzwischen einen einstweiligen Sicherungsbescheid erlassen. Diskussionen über die Zukunft des Fundes laufen bereits: Soll ein Museum am Ort entstehen? Sollen die Objekte auf bestehende Museen verteilt werden?
Eins ist sicher: Dieser Dachschaden hat mehr als nur einen verrotteten Dachstuhl geöffnet. Er hat ein Portal in eine Zukunft aufgestoßen, die nie Gegenwart wurde, und eine faszinierende, in Staub konservierte Vision einer untergegangenen Welt freigelegt, die darauf wartet, entdeckt zu werden.
